Huaisang hatte keine Ahnung, was da als nächstes passierte. Er war vor Schreck in Lan Huans Armen zusammengezuckt, hatte sich an ihn gepresst und auch, wenn dieser ihm die Ohren zugehalten hatte, hatte er gehört, was die Stimme gesagt hatte. Mingjue war tot. Er wusste es. Es war ihm so klar und doch konnte er es nicht realisieren. Er starrte einfach nur vor sich hin. Gefühlt für eine Ewigkeit, doch dann wurde er von Jiang Cheng auf die Beine gezogen. Einen Moment war er stehen geblieben, bevor er zu Jin Zixuan gegangen war. In seiner Trance hatte er gerade ein merkwürdig großes Empathie-Empfinden. „Du... schenkst mir deine Kamera?“ Fragte er und streckte seie Hand danach aus, griff sie vorsichtig und zog sie an sich heran. Einen Moment lächelte er, dann schüttelte er den Kopf. „Das kann ich nicht annehmen. Aber das Foto... darf ich es behalten?“ Er nahm es und warf kurz einen Blick darauf. Darauf sah man, wie Jiang Cheng gerade die Strähne aus Lan Huans Gesicht strich. Huaisang war nur zu erahnen, weil er in Lan Huans Schoß kauerte. Kurz starrte er auf das Foto, dann steckte er es in seine Hosentasche und fühlte nochmal, ob es auch wirklich sicher verstaut war. Er sah dann aber auf, als Jiang Cheng zu reden begann. „Hab verstanden.“ Sagte er leise, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er wirklich alles verstanden hatte. Sein Blick ging wieder zu Jin Zixuan, der vollkommen verloren wirkte. Huaisang griff seine Hand. „Komm. A-Cheng sagt, wir müssen uns beeilen.“ Er führte ihn zum Ausgang, blieb dann nochmal stehen und drehte sich zu ihm um. „Hab keine Angst. A-Cheng passt auf uns auf.“ Huaisangs Augen brannten, als er das sagte. Er drückte Zixuans Hand fester. „Lass nicht los, ja? Wir müssen zusammen bleiben.“ Auch wenn Huaisang zuvor nie wirklich etwas mit Zixuan zutun gehabt hatte, verspürte er gerade eine große Verbundenheit zu seinem Klassenkameraden. Sie waren in der selben beschissenen Lage und hatten Angst. Große Angst.
Jiang Cheng hatte entschuldigend zu Lan Huan gesehen, als dieser so schmerzerfüllt aufkeuchte. Er wollte ihm nicht noch mehr zumuten, doch sie konnten auch nicht riskieren, dass sich die Wunde entzünden würde. Er hatte das Verbandspäckchen dann schnell nochmal aufgehoben, nachdem es ihm kurz vor Schreck aus der Hand gefallen war und eilig um die Wunde gewickelt, damit sie wenigstens etwas geschützt war. Nachdem sie dann aufbruchbereit waren, griff Jiang Cheng wieder den Ast. Auch er sah dann zu dem kleinen Computer in Lan Huans Hand und nickte entschlossen. Er war erleichtert, dass sie scheinbar erstmal alleine hier waren. „Behalt es weiter im Auge. Das bringt uns einen großen Vorteil.“ Überlegte er. „Huaisang?“ Er sah nach seinem Freund, der bei Jin Zixuan stehen geblieben war. Kurz musterte er ihn. Er schein zumindest soweit anwesend zu sein, dass er gehen konnte. Das war gut. Außerdem wurde ihm gerade wieder bewusst, dass Jin Zixuan ja nun auch bei ihnen war. Das hatte er schon wieder vergessen. Dieser stand so verloren da, wie ein junges Reh, dass seine Mutter verloren hatte. Es schnürte Jiang Cheng die Brust zu und er fragte sich, ob er etwas schroff gewesen war. Allerdings war er gerade auch in einer Position, in der alles von ihm abverlangt wurde. Er war überfordert. Aller hier verließen sich auf ihn. Das wurde auch deutlich, als Lan Huan wieder nach seinem Ärmel griff. Er drehte sich zu ihm um, musterte ihn kurz abschätzend, bevor er seinen Ärmel mit seiner Hand ersetzte. Er drückte sie leicht und signalisierte Lan Huan, dass er ihn hatte. Er würde ihn festhalten und nicht verlieren. „Okay. Wir müssen absolut leise sein. Wir reden nur miteinander, wenn es wirklich nötig ist und dann auch nur flüstern. Huan. Solltest du bemerken, dass jemand in der Nähe ist, gib uns ein Handzeichen. Wir werden dann sofort Deckung suchen. Ansonsten bleiben wir nicht stehen. Hört ihr. Wir müssen uns beeilen." Eindringlich sah er alle nochmal an, vorallem Huaisang. „A-Sang. Sieh mich an.“ Er wartete, bis sein Freund den Blick erwiderte. „Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ Huaisang nickte leicht und setzte sich mit Jin Zixuan in Bewegung. Jiang Cheng ging mit Lan Huan voraus, blieb dann aber mit Jin Zixuan und Huaisang auf einer Höhe, um die beiden im Auge zu behalten. Bis zur Küste waren es mindestens 2 Kilometer. Aber erstmal mussten sie nun die Gefahrenzone verlassen...
Xingchen lehnte sich Xue Yang entgegen, als er dessen Lippen auf seiner Wange spürte. Wie sehr er ihm damit gerade half, war ihm sicher garnicht bewusst. Allein, dass Xue Yang ihn so abschirmte, gab Xingchen das Gefühl, dass es ihn zusammenhielt. Er wollte nicht, dass Xue Yang ihn mit seinem eigenen Körper vor Gefahr schützte, doch so dicht bei ihm zu sein, ließ ihn glauben, dass er in Sicherheit war. Trotzdem wollte er nicht, dass Xue Yang sein Leben riskierte, um ihn zu beschützen. Er nickte leicht, als Xue Yang ihm sagte, dass sie noch kurz warten müssten. Die Schreie und das Wimmern der Mädchen war noch immer zu hören und wieder fielen Schüsse. Xingchen kniff die Augen zusammen und spannte sich an. Am liebsten wäre er losgerannt. Weg von allem hier. Oder zu den Mädchen, um ihnen zu helfen. Er fühlte sich hin und hergerissen. Dann hörte er Xue Yangs kurze Anweisung. „Okay...“ Sagte er leise und mit erstickter Stimme. Er hinterfragte gerade garnicht, dass Xue Yang von so etwas Ahnung hatte, oder dass ihm diese Dinge in den Sinn gekommen waren. Er spürte die Hand seines Freundes an seiner Taille und schon rannten sie los. Xingchen musste sich immer wieder an Xue Yang festhalten, denn er stolperte. Der Untergrund war uneben und er hatte überhaupt keine Orientierung. Das war eines der schlimmsten Gefühle für ihn. Doch er vertraute Xue Yang. Lies sich von ihm führen. Endlich kamen sie zum Stehen. Xingchen rauschte es in den Ohren. Adrenalin raste durch seine Adern und er war atemlos. An dem Fluss lies er sich einfach auf die Knie sinken. Das kalte Wasser an seiner Hand tat gut. Es gab ihm das Gefühl, dass er sich noch in der Realität befand. Er konnte nicht direkt antworten, er hatte alle Mühe, sich gerade zu sammeln. Doch er wollte sich zusammenreißen. Sie waren jetzt drei Tage in diesem Alptraum gefangen und er konnte Xue Yang nicht aufbürden, dass dieser ihn betreute. Er wollte ihm helfen. So nickte er leicht. „Ich bin sofort wieder soweit.“ Sagte er und versuchte seinen Atem zu normalisieren. Er entlies seine Hand aus der von Xue Yang und beugte sich zum Wasser runter. Er wusch sich das Gesicht mit dem kalten Wasser und fing etwas davon in seinen Händen auf, trank einen Schluck, bevor er sich das Gesicht mit seinem Shirt trocknete. „Wir können weiter.“ Sagte er dann und seine Stimme klang dabei wieder etwas klarer. „Xue Yang.“ Sagte er dann aber und griff nach dessen Hand. „Ich will nicht, dass du mich abschirmst, wenn es gefährlich wird. Bitte rette nicht mein Leben, wenn es deins gefährden könnte. Dir darf nichts passieren.“ Xingchens Stimme klang sehr entschlossen. „Dein Leben ist ebenso wertvoll wie meins.“ Er beugte sich zu ihm rüber und küsste ihn sanft auf die Lippen. Darüber wollte er auch garkeine Diskussion führen. Er erhob sich, um Xue Yang zu zeigen, dass es ihm gut ging. Er lauschte. „Es ist niemand in der Nähe. Wir sollten los.“