Lan Zhan sah zu Xiao Xingchen, während dieser Näher kam. Glücklicherweise blieb dieser in einer angenehmen Distanz zum Unterhalten stehen und war nicht zu laut. Bis zu diesem Augenblick war Zhan nicht in den Sinn gekommen, dass Xingchen womöglich, durch seine Blindheit, ähnliche Probleme mit lauten oder zu vielen Geräuschen haben könnte. Vielleicht war das einer der Gründe, warum es nicht ganz so überwältigend und anstrengend war, mit ihm zu reden, wie mit anderen Klassenkameraden. Auch wenn die Frage, die er stellte, alles andere als einfach war. Zhan brauchte sehr lange, um seine Gedanken zu sammeln und noch länger, sie in Worte und Sätze zu verwandeln. Gleichzeitig befürchtete er, Xingchen würde sich jeden Moment umdrehen und wieder weggehen - sowie viele Andere, wenn er zu lange brauchte, um zu antworten. Doch er konnte auch nicht erklären, dass er die Leute nicht ignorieren wollte (meistens), sondern wie schwierig soziale Interaktionen für ihn sein konnten. Huan hatte es oft genug versucht, an seiner Stelle zu erklären, doch meist hatte auch das nicht geholfen. Viele wollten es einfach nicht verstehen.
Irgendwie schaffte es Zhan schließlich, Xingchen so halbwegs zu antworten: “Es ist in Ordnung. Bruder geht es besser. Nicht ganz gut, aber okay.” Er wusste nicht, wie er es sonst erklären sollte, aber er versuchte sein Bestes. Xingchen hatte gesagt, die Gerüchte würde ihn nicht interessieren, aber Zhan hatte trotzdem das Gefühl, er sollte zumindest irgendwie mehr Kontext geben. “Wei Ying hat Huan verletzt. Dadurch indirekt mich. Ich denke…hoffe, er wollte das nicht.” Und auch wenn Zhan wirklich hoffte, dass Wei Ying ihm nicht absichtlich weh tun wollte, änderte es nichts an der Tatsache, dass es in letzter Zeit so oft vorgekommen war. So oft, dass selbst Zhan nicht einfach darüber hinwegsehen konnte oder ihm ohne Entschuldigung vergeben konnte, wie er es in der Vergangenheit getan hatte. Doch jedes Mal hatte es nur zu noch mehr Schmerz geführt. Das konnte er einfach nicht mehr.
Ihr Gespräch (falls man es so nennen konnte) wurde von Herr Shen unterbrochen. Sie gingen näher zu der Stelle, an der sich alle versammelten. Zhan entschied sich trotzdem, einige Schritte von allen Anderen entfernt, zu warten. Er hörte sehr Aufmerksam bei der Beschreibung der Aufgabe zu. Als Binghe mit den Zetteln rumging, nickte er diesem kurz als Dank zu. Das Konzept von Gruppenarbeiten hatte ihm noch nie zugesagt und ausgeloste Gruppen sorgten nur dafür, dass er sich noch unwohler fühlte. Zumindest schienen die anderen Gruppenmitglieder ihn schnell zu finden und er musste sich nicht durchfragen. Er nickte sowohl Meng Yao als auch Cheng zu. Dabei fiel ihm jedoch noch etwas anderes auf. Sofort ließ er seine Augen über seine Mitschüle wandern, bis er den Blick seines Bruders auffing. Immerhin hatte dieser heute Morgen explizit danach gefragt, nicht von Zhan, Cheng oder Mingjue getrennt zu sein, bis es ihm wieder besser ging und er sich sicherer fühlte. Es war keine Überraschung, dass Huan seine stumme Frage auch von weiter weg lesen konnte. Er warf Zhan ein breites Lächeln zu und hob einen Daumen nach oben, als Zeichen dafür, dass er mit der Gruppeneinteilung zufrieden war. Huan berührte sein Kinn kurz mit seinen Fingern bevor er die Hand in Zhans Richtung öffnete. Ein stummes Danke. Zhan nickte kurz. Er wand sich wieder seiner Gruppe zu. Wie gut sie zusammenarbeiten könnten, war nicht wirklich sicher. Cheng und er hatten eine seltsame, neue Dynamik, bei der er noch nicht ganz sicher war, wie sie eigentlich zueinander standen. Was Meng Yao betraf, so wusste er nichts mit diesem anzufangen. Sein Bruder sprach zwar in den höchsten Tönen von ihm, doch Zhan selbst war sich nicht ganz sicher. Nun, das würde sich im Laufe der Aufgabe zeigen.
Zwar war Binghe etwas traurig, dass er nicht mehr mit seinem Shizun alleine sein konnte, doch es reichte ihm, hinter diesem stehen zu dürfen. Die Position erlaubte ihm nämlich immer mal wieder tödliche Blicke über den Kopf seines Shizuns hinweg an alle zu verteilen, die auch nur anstalten machten, diesen zu unterbrechen oder sich beschweren zu wollen. In seinen Augen, war die Aufgabe sehr gut überlegt und brillant von seinem Shizun zusammengestellt. Vor allem freute sich Binghe jedoch auf die Nachtwanderung. Denn da würde sein Shizun sicher dabei sein. Vielleicht könnte Binghe im Schutz der Nacht sogar heimlich Qingqius Hand halten. Wenn auch nur kurz. Das würde doch sicher Keinem auffallen. Als Qingqiu ihn fragte, ob er das Schälchen mit den Nummern austeilen könnte, setzte sich Binghe sofort in Bewegung. Er warf einem Shizun ein breites Lächeln zu, als er der Schale entgegen nahm, bevor sein Gesicht in einen neutralen Ausdruck verfiel, während er mit seinen Mitschülern interagierte. Schon jetzt hatte er keine Lust auf diese Gruppenarbeit. Mit anderen zusammenarbeiten war nicht gerade seine Stärke. Doch für einen Shizun würd er das natürlich tun und sich die größte Mühe geben. Mit verschränkten Armen wartete er darauf, dass irgendwer bemerkte, sie wäre in derselben Gruppe.
Es dauerte nicht lange, bis sich Xue Yang in sein Sichtfeld schob. Auf dessen Gesicht war ein Grinsen, das ein wenig zu schneidend. Er hob eine Hand, zwischen zwei Fingern steckte das Blatt Papier. Binghe zog eine Augenbraue hoch. “Sieht aus, als würdest du mit mir vorlieb nehmen müssen. Nur du, ich und wer auch immer für eine unbestimmte Zeit”, meinte Yang. Und als hätter er damit Huaisang beschworen, gesellte dieser sich zu ihnen. Fast gleichzeitig drehte sie ihre Köpfe zu diesem. Yang entkam ein kurzes kichern, als er sah wie nervös Huaisangs Augen durch den Raum wanderten. Er sollte es ihm nicht so einfach machen. Hatte er denn nichts von gestern Abend gelernt? Yang streckte die Hand aus und fing damit den Fächer ein und drehte ihn aus dessen Hand. Der Fächer verschwand hinter seinem Rücken und gleichzeitig beugte sich Yang ein wenig vor. “Naw, willkommen im Team. Kein Grund schon so nach irgendwas zu suchen. Vom Rumgucken wirst du nichts finden. Komm, schon, riskiere einen Blick auf uns. Was kann schon passieren, A-Sang?” Yang wählte den Spitznamen, weil er gespannt war, wie Huaisang darauf reagieren würde. Er hoffte darauf, dass es unterhaltsamer werden würde.
Binghe verdrehte die Augen. “Können wir dann los?” Er wollte unbedingt die Aufgabe als erstes Abschließen. Schließlich hatte ein Shizun gesagt, dass der Gewinner etwas von ihm erhalten würde. Und er wollte ihn Stolz machen. Yang richtete sich wieder komplett auf und drehte sich weiter zu Binghe. Er lehnte seinen Kopf ein wenig sein. “Oh, da ist jemand aber ungeduldig. Du kannst es wohl nicht abwarten mit uns im Wald zu verschwinden.” Sein Grinsen wurde etwas breiter und gleichzeitig wurde Binghes Gesichtsausdruck dunkler. “Wag es ja nicht, mir so etwas zu unterstellen”, fauchte Binghe. Die Andeutung, er könnte auch nur ansatzweise an jemandem interesse haben, der nicht sein Shizun war, war schrecklich. “Mmmm.” Yang trat einen Schritt auf Binghe zu, legte dabei den Kopf ein wenig in den Nacken, um ihm weiterhin in die Augen zu sehen. “Hab ich dir etwas unterstellt oder hast du das nur hinein interpretiert?” Yang hob Huaisangs Fächer und presste ihn unter Binghes Kinn. “Wir könnten mit dem ganzen hier viel Spaß haben”, fügte Yang noch hinzu. Binghe knurrte ihn an. Keiner von Beiden wich zurück oder schien auch nur anstalten zu machen ihren Blickkontakt zu brechen.
Zixuan wusste nicht wirklich, was er davon halten sollte, dass Huaisang meinte, er würde nun zu ihrer Gruppe dazugehören. Irgendwie konnte er das nicht ganz glauben. Es würde ihn freuen, wenn er wirklich akzeptiert werden würde und sie wirklich mehr Zeit mit ihm verbringen wollen würden. Aber er war sich immer noch zu unsicher. Er verschränkte ein wenig die Arme vor der Brust. Irgendwie blieb es ihm zum Glück erspart zu antworten, weil sie sich sowieso alle versammeln mussten. Das hielt Huaisang jedoch nicht davon ab, weiter zu reden. Es war zwar irgendwie eine witzige und auch niedliche Geschichte mit den Kaulquappen, aber es auf auch unangenehm, weil Huaisang der einzige war, der noch redete. “Huaisang”, versucht Zixuan ihn zu unterbrechen, doch anscheinend erfolglos. Es brauchte Herr Shens laute Ermahnung und Binghes hasserfüllten Blick, bis Huaisang still wurde. Ein wenig tat er ihm leid. Die Aussicht auf erneute Gruppenarbeit freute ihn nicht sonderlich. Allerdings schien er ausnahmsweise Glück zu haben, was die Einteilung betraf. Vielleicht hätten die Beiden nichts dagegen, wenn er versuche würde sich einzubringen und bei der Lösung der Aufgabe versuchte zu helfen.
Auch Huan hörte aufmerksam zu, während Herr Shen den weiteren Ablauf des Tages erklärte. Plötzlich spürte er, wie jemand seinen Arm streifte und sah sich um. Meng Yaos kurzer trauriger Blick und die gemurmelte Entschuldigung, löste ein wirrwar an Gefühlen bei Huan aus. Er wollte ihn nicht so sehen. Er wünschte sich so sehr, dass sie all ihre Probleme einfach klären konnten, auch wenn er sich bewusst war, dass nichts daran einfach sein würde. “A-Yao”, setzte er an und wollte nach dessen Arm greifen, doch Yao war schon zwischen ihren Mitschülern verschwunden. Bald. Sie würden bald reden.
Doch vorerst standen andere Probleme auf der Tagesordnung. Die Tatsache, dass die Teams Ausgelost wurde, bereitete ihm ein wenig Bauchschmerzen. Allerdings wollte er die Konstellation erst einmal abwarten. Inzwischen ging es ihm schon wieder so gut, dass er sich durchaus in der Lage sah mit einigen Mitschülern zusammen zu arbeiten. Problematisch würde es nur werden, wenn es Personen wäre, von denen er wusste, dass sie ohne Fragen hinter Wei Ying stehen. Er wusste nicht, wie diese Leute nach all dem reagieren würden, aber er wollte es auch nicht riskieren; noch nicht heute. Vermutlich könnte er dann fragen, ob es in Ordnung wäre das Team zu tauschen. Herr Shen würde das sicher verstehen. Doch vorerst nahm er einen Zettel aus der Schüssel mit einem leisen “Danke” an Binghe. Ein schneller Abgleich der Zahlen zeigte, dass er leider nicht mit Cheng in einem Team war. Jedoch hörte er neben sich auch Jin Zixuan der Huaisang dieselbe Frage beantwortete. Er drehte sich ein wenig mehr zu diesem. “Zixuan, es sieht aus, als würden wir zusammenarbeiten”, lächelte er. Nachdem dieser sie mit Jiang Chengs Familie unterstützt hatte, was Huan sich sicher, dass sie gut miteinander auskommen würden und er sicher war. Zixuan hob den Kopf ein wenig, als Huan ihn ansprach. Er nickte leicht: “Das klingt…gut.”
Kurz wurde Huan dann noch einmal von Chengs Kommentar zu der Nachtwanderung abgelenkt. Daran hatte er gar nicht gedacht. “Oh”, sein Mund wurde leicht schmollend, “Ich kann ein bisschen länger aufbleiben. Das wird schon. Und wenn nicht, dann hab ich doch das versprechen von jemandem, dass mich dieser immer sicher nach Hause bringen würde. Wenn ich mich recht entsinne.” Je länger er sprach, desto mehr formte sich wieder ein Lächeln auf seinen Lippen. Am Ende zwinkerte er Cheng zu.
Dann wand er sich vollständig zu Zixuan. “Wollen wir dann. Uns fehlt schließlich noch ein Mitspieler.” Zixuan nickte leicht. “Ich glaube, Xiao Xingchen hat gerade nach der Nummer zwei gefragt”, meinte Zixuan, der es gerade hinter sich überhört hatte. Huan lächelte erleichtert. Xiao Xingchen war immer freundlich, also auch jemand mit dem er gerne zusammenarbeiten würde. Dementsprechend gab er seinem Bruder auch das Zeichen, dass alles in Ordnung war. Huan sah sich um, damit er Xingchen ausfindig machen konnte. Das war auch schnell getan. “Komm.” Er ging mit Zixuan im Schlepptau hinüber. “Xiao Xingchen?”, fragte er mit einem Lächeln, “Du bist auch Gruppe 2, oder? Dann würden wir zusammenarbeiten. Und mit Zixuan.” “Hey”, murmelte dieser leise.
Bei Meng Yaos Entschuldigung, schüttelte Mingjue den Kopf. “Du kannst dich noch kleiner machen?”, scherzte er mit einer hochgezogenen Augenbraue. “Nein, aber das ist wirklich das kleinste Problem. Du hast mich nicht gestört.” Huaisang nahm oft genug mehr Platz weg, wenn er wieder darauf bestand, nicht alleine schlafen zu können.
Hätte er gewusst, was gerade wirklich in Meng Yao vorging, wäre er vermutlich sehr überfordert gewesen. Ihr Verhältnis war sowieso schon verwirrend genug. Mingjue hatte gerade keine Ahnung, in welche Richtung sich das alles weiter entwickeln würde. Obwohl er Hoffnungen hatte, sie könnten vielleicht irgendwie wieder zueinanderfinden. Zumindest ein bisschen. Auch wenn er sich nicht zu sehr in dieser Hoffnung verrennen wollte. Nicht, dass er wieder enttäuscht werden würde. Allerdings stimmte er mit ihm überein, als Yao meinte, die Hauptsache wäre erst einmal, dass es Huan gut gehen würde.
Doch ihr Gespräch wurde davon unterbrochen, dass Herr Shen endlich wieder die Stränge in die Hand nahm und das ganze hier leitete. Was er eigentlich schon die ganze Zeit machen sollte, aber okay. Das bedeutete zumindest, dass Mingjue nun erst einmal halbwegs Pause hatte. Er ließ sich auf den Stein fallen, auf dem Meng Yao gerade noch gesessen hatte. Die Pause brauchte er gerade auf jeden Fall.